WAS BRAUCHT DIE WELT HEUTE? – SPIRITUALITÄT UND WELTOFFENHEIT
Vortrag zum Offenen Frühlingstreffen 21. Mai 2022 in der ökumenischen Gemeinde Halden, St. Gallen
Je nach Blickwinkel, aus dem wir die Erde betrachten variiert das, was sich uns zeigt.
Schauen wir auf die grossartige Schönheit und Lebenskraft der Erde und des Universums oder fokussieren wir uns auf die Zerstörung, die wir Menschen verursachen?
Richten wir unseren Blick auf die Menschen, mit allem Potential von Solidarität, Hingabe und Engagement oder blicken wir auf die menschliche Möglichkeit, zu zerstören und Leben zu missachten?
Was braucht die Welt heute?
Ich bin überzeugt, es braucht einen ganzheitlichen Blick, der möglichst alles und mehr als alles sieht. Das Grossartige, Lebensfördernde und das Abgründige, Zerstörerische und gleichzeitig das grosse Geheimnis hinter und in allem.
Zuerst ein Blick auf die drängenden Fragen, in denen wir als Menschheit stehen:
Krieg und Gewalt – in der Ukraine und in all den vergessenen Gewaltkonflikten in Eritrea, Äthiopien, Mali, Sudan, an der Grenze Mexiko/USA, China im Umgang mit den Uiguren, Tibet, Afghanistan, Syrien, in verschiedenen Ländern Lateinamerikas….
Unser Klima, das sich menschengemacht so rasant verändert, dass viele Lebensformen die rasche Adaption an die neuen Bedingungen nicht schaffen und aussterben.
Die mörderischen Auswirkungen der Klimaerwärmung auf verschiedene Gebiete der Erde kennt ihr: Gebiete von Indien leiden unter langen Phasen mit Temperaturen von über 40° Hitze – mit der Konsequenz, dass alles vertrocknet, die Ernte verdorrt, der Wind die Erde wegweht und damit der Humus verschwindet. Wovon werden die betroffenen Menschen und Tiere leben?
Unsere Gletscher schmelzen und das Eis an den Polen ebenfalls – Lebensraum für Tiere und Menschen wird dadurch zerstört – der Meeresspiegel steigt und Bangladesh, Inselstaaten in der Südsee wie Tahiti und viele flache Küsten werden überflutet. Wo gibt es neuen Lebensraum für Mensch und Tier, die vor dem Wasser flüchten müssen?
Die Klimaerhitzung nimmt rasant zu – die Schritte zum Schutz der Erde sind erschreckend zögerlich – der notwenige Verzicht ist leider kaum ein Thema.
Zu wenig Wasser in Gebieten von Afrika – Dürren, keine Ernten. Hunger. Gleichzeitig lagern in der Ukraine Millionen von Tonnen Getreide, das nicht ausgeführt werden kann. Heute hungern 700 Mio Menschen, es werden in Kürze sehr viel mehr werden.
Fehlendes Wasser in Asien, weil westliche Getränkekonzerne die Rechte zur Nutzung des Grundwassers gekauft hat und die Menschen ihr eigenes Wasser in Flaschen kaufen müssen – eine von vielen Formen der groben Missachtung von Mensch und Natur.
Ausbeuterische und Lebensraum zerstörende Förderung von Bodenschätzen in Drittweltstaaten durch Konzerne aus den Industrieländern…
Müssen wir uns die beschämende Frage stellen: Wie viel Mensch erträgt die Erde?
Wenn wir all diese drängenden Themen betrachten – und es sind längst nicht alle angesprochen – dann erkennen wir, dass Wandel nur durch Gerechtigkeit, Frieden und Sorgfalt dem gesamten Leben gegenüber möglich wird. Alle drei Ausrichtungen bedingen sich gegenseitig und sind zutiefst spirituelle Haltungen, genährt aus der Erfahrung der Verbundenheit. Pater Lassalle stellte in seinem Buch ‚Mein Weg zum Zen‘ (Köselverlag) die Frage: Wohin geht der Mensch? Ich zitiere Lassalle:
‚Das Problem des Weltfriedens ist in erster Linie eine Frage des menschlichen Herzens. In der gegenwärtigen Weltstunde kommt der Mensch nicht zur Ruhe, wenn es ihm nicht gelingt, sich die(se) neue Dimension, das neue Bewusstsein zu eigen zu machen. Wir sollten nicht weit von uns entfernt suchen, sondern uns bemühen, im täglichen Leben Menschen des Friedens zu sein. Viele Erscheinungen unserer Zeit sind als die Geburtswehen des neuen Menschen anzusehen. …Gerade an diesem Punkt kommt es auf die Meditation an: vor allem die ungegenständliche Meditation wie Zen befähigt uns, den latenten Dualismus und die daraus resultierende Feindschaft mit der Folge des Krieges aufzufangen und das kosmische Ganze als Einheit zu erfahren. Von dieser Erfahrung der Einheit her wird allmählich die Feindschaft und der Krieg in uns selbst und in unserer Umwelt überwunden‘.
Haben die Religionen Antworten für die Themen unserer heutigen Welt?
Die Gruppe der Ahmadija-Muslime, die jeden Freitag hier in der Halden beten, betont immer wieder den Grundsatz: Liebe für alle, Hass gegen keinen.
Jesus ermuntert uns: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – oder etwas anders formulierte der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber diese Herausforderung: ‚liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du‘. Buddhistisch könnte dieser Satz tönen: ‚Liebe deinen Nächsten, denn er ist du‘.
Noch herausfordernder ist die jesuanische Haltung: ‚Liebt eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen; segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln‘ (Lk6, 27-29) Dazu eine Frage: welche Gedanken habe ich zB Vladimir Putin gegenüber? Segnen heisst nicht, alles gutheissen und absegnen. Jedoch, nähere ich den Unfrieden oder kann ich im Bodhisattvawunsch bleiben: ‚Mögen alle Wesen tiefes Glück erfahren und daraus dem Leben dienen‘?
Was braucht die Welt heute?
Diese Frage stellte ich Menschen verschiedenen Alters:
30 jähriger Mann: Verständnis und Nähe
74 jähriger Mann: Transparenz und Wahrhaftigkeit in meinen Worten, in den Nachrichten
67 jährige Frau: Liebe und Sorgfalt
30 jährige Frau: Viele Bäume
Verschiedene: Frieden
5 ½ jähriger Junge, sprudelt ganz spontan: weniger herumfliegen, weniger Bäume abholzen, weniger Beton
80 jähriger Mann: Verzicht und Reduktion in den Industrieländern
40 jährige Frau: Demut im Bewusstsein, dass der Mensch nicht das Grösste ist.
Die Pandemie, hat uns mit Deutlichkeit gezeigt, dass wir als Menschheit ein Leib sind und dass unsere gemachten Grenzen unwirklich sind – denn ein Virus kümmert sich nicht darum. Ja, auch die vermeintliche Grenze zwischen Mensch und Tier wird ein Stück weit aufgelöst bei der Zoonose, in welcher Viren von den Tieren auf die Menschen überspringen. Das macht uns bewusst, dass alles Leben miteinander verbunden ist. Eine Grundwahrheit, die unser Herz kennt. Alles ist das eine Leben, welches sich in ganz verschiedenen Formen zeigt.
Wir sind auf der ganzen Welt vernetzt durch Wirtschaft und digitale Kommunikation – was noch wachsen muss ist die Globalisierung der Solidarität. Genau dies ist ein Aspekt der Spiritualität: dadurch, dass wir in der Kontemplation die mentalen Ebene lassen und auf die Ichaktivitäten und Ichidentifikation verzichten, gelangen wir in eine immer tiefere Erfahrung der Verbundenheit. Der Weg der Stille führt von der Illusion des abgetrennten Selbst in die ursprüngliche Einheit mit dem Urgrund und damit mit allem Leben. So können wir – aus der Erfahrung – mit Albert Schweizer sagen: ‚Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.‘
Das Gewebe des Lebens zeigt sich in vielfältiger Form und als eine dieser Lebensformen sind wir verbunden mit allem. Wir sind ganz drin im Gewebe des Lebens, also auch eins mit den Kindern, die unsere nicht mehr brauchbaren Handys auseinandernehmen für den Recyclingprozess und sich dabei verstrahlen und krank werden.Auch sie sind Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.
An der Wand hängt die Kalligraphie von Anna Schindler, die wir nach dem Mittagessen versteigern werden zugunsten von medica mondiale. Wir sehen die Zeichen: Shin kô.
Shin steht für HERZ/ HERZGEIST und das Zeichen Kô zeigt einen Menschen, der DIE ERDE MIT DEM PFLUG LOCKERT. Eine mögliche Übersetzung: Der Mensch lockert die Erde, mit der er im Herzgeist eins ist. – Die Kalligraphie ist also ein Ausdruck der Erfahrung der Einheit allen Lebens. Was auch immer wir tun – wir sind eins damit.
In diese Erfahrung trägt uns das Sitzen in der Stille. Wir werden innerlich durchgepflügt, die Verhärtungen lockern sich, das scheinbar Abgetrennte fühlt sich immer verbundener und wir erfahren, dass die Herzmitte der Erde eins ist mit dem eigenen Herzgeist.
So erfahren wir: Wer sich nach innen aussetzt, kann sich in Verbundenheit nach aussen einsetzen.
Der bekannte Umweltschützer, Unternehmer, Autor und Aktivist Paul Hawken hielt eine denkwürdige Rede für die Absolventen der Universität von Portland (USA) «Auf der Rückseite Ihres Diploms, das Sie erhalten, ist etwas mit unsichtbarer Tinte geschrieben. Falls Sie keinen Zitronensaft dabeihaben, um die Schrift zu entziffern, kann ich Ihnen sagen, was dort steht: Sie sind brillant, und die Erde stellt Sie ein. Die Erde konnte es sich nicht leisten, Headhunter oder schicke Autos zu Ihrer Uni zu schicken. Sie schickte Ihnen Regen, Sonnenuntergänge, reife Kirschen, nachtblühenden Jasmin und die Lieblingsperson, mit der Sie zusammen sind. Hoffentlich kommt die Botschaft an. Hier ist der Deal:
Vergessen Sie, dass die Aufgabe, die Erde zu retten, in der erforderlichen Zeit nicht möglich ist. Lassen Sie sich nicht von Leuten abschrecken, die wissen, was nicht möglich ist. Tun Sie, was getan werden muss, und überprüfen Sie erst, ob es unmöglich war, wenn Sie fertig sind.»
Margrit Wenk-Schlegel