Menschen sind Wesen mit zwei Flügeln – oder das Gegensätzliche macht uns ganz

Verena Sieber-Merz, St. Gallen

Vor gut 30 Jahren stand ich vor einer Entscheidung: dreijährige Therapieweiterbildung  oder Zenschulung. Mich therapeutisch weiterzubilden hiesse, Menschen besser und kompetenter zu begleiten in ihren Heilungs- und Selbstfindungsprozessen. Doch, mein Herz zog es in die Stille. Ein egoistischer Entscheid? Mit allen Kräften liess ich mich ein auf den stark männlich strukturierten Zenweg  – und zu meinem Erstaunen flossen dadurch  vermehrt weibliche Qualitäten in meine therapeutische Arbeit: mehr Zeit zum Nachklingenlassen, Pausen, in denen nichts war als achtsames Atmen, ich selber weniger aktiv,  präsenter und im Vertrauen auf die innere Führung meines Gegenübers. Kein Wunder, die Prozesse vertieften sich. Meine Ausrichtung nach innen hatte rasch Auswirkungen nach aussen.

Nach langer Zenschulung folgte die Ausbildung zur Kontemplationslehrerin.  Auf meinem  Übungsweg und in der Begleitung von Menschen erlebe ich, dass die Innenschau uns öffnet für die Weite des Lebens.
Kontemplation via integralis ist eine Verbindung von Zazen und den Erfahrungswegen der christlichen Mystik. Immer tiefer begreife ich, dass sich darin das Weibliche und Männliche verbinden. Der männlich strukturierte Tagesablauf in den Retreats schafft Raum für weibliche Qualitäten wie Offenheit und Empfänglichkeit. Beim Sitzen in Achtsamkeit entwickelt sich das männlich Entschiedene und gleichzeitig die weibliche Hingabe und Absichtslosigkeit. Ein scheinbares Paradox. Wenn wir alle Sinne auf einen Punkt bringen und ausschliesslich in diesem Atemzug präsent sind,  wird die in uns wohnende Weite und Grenzenlosigkeit erfahrbar.

Integrierte Gegenpole lassen uns ganz werden. Dass das auch  für Gesellschaften und Kirchen gilt, davon bin ich überzeugt. Mann und Frau, Dunkel und Hell, Reich und Arm, Nord und Süd – nur gemeinsam sind wir ganz: Leib Christi. Wenn eine Seite dominant ist, droht das Schiff des Lebens zu kippen.

So ist es für mich immer wieder ein beglückendes Erleben, wenn Frau und Mann gleichwertig am Altar stehen in den ökumenischen Gottesdiensten. ‚Als sein Ebenbild schuf Gott sie, als Frau und Mann‘.

Margrit Wenk-Schlegel, St. Gallen
Kontemplationslehrerin / Spirituelle Leitung der Lassalle-Kontemplationsschule  via integralis