Das kontemplative Gebet

Gebetsformen in der Kirche (4/6/ 2014)

«Es ist eine Kraft in der Seele, die ist weiter als die ganze Welt. Es muss gar weit sein, worin Gott wohnt.» So drückte sich Meister Eckehart, ein christlicher Mystiker (1260–1338), einmal aus. Viele Menschen kennen die Sehnsucht nach dieser Weite, spüren ein Heimweh nach der erfahrbaren Gegenwart Gottes. Ein solches inneres Drängen hat mich als Jugendliche auf die Suche getrieben.

So kam ich nach Taizé und zu verschiedenen Meditationskursen. Die Stille hat mein Herz tief berührt. Eine Ahnung tauchte auf, dass Stille heimführt ins Geheimnis allen Lebens. Das Wort in meinem Atem: «ich in dir – du in mir» begleitete mich während Jahren in der Schweigemeditation. Und es war auch in schwierigen Zeiten, ja sogar in Nahtoderfahrungen, ein Anker. Über viele Jahre des Übens und Dranbleibens hindurch erahnte ich die Tiefe der Aussage von Meister Eckehart: «Die Wahrheit ist innen im Grund und nicht draussen.»

Berührung mit dem Urgrund
Die Kontemplation ist ein Weg in diese innere Wahrheit. Das entschiedene Loslassen der Gedanken in der Schweigemeditation zen- triert uns, ermöglicht den Kontakt mit dem innersten Grund und kann uns öffnen für die mystische Einheit. Dieses Eine wird in den Religionen verschieden benannt: Urgrund, Gott, Allah, Brahman, Leere-Fülle… Es bleibt aber das Eine, Unaussprechbare in allem. «Da hinein dringe mit allen Kräften», ermuntert uns Eckehart. Doch, wie geschieht das «Hin- eindringen»? Die Übung des «Zazen», der Schweigemeditation des Zen, mit dem klar ausgerichteten Sitzen in Achtsamkeit, hilft uns, präsent zu sein und alle Bilder von Gott, mir selbst und den Andern loszulassen. Treu der Aufforderung in der Bibel: «Du sollst dir kein Bildnis machen» (Ex 20,4).

Erfahrung der Einheit
Kontemplation ist ein Weg der Hingabe; ein Weg, uns der inneren Wandlung zu übergeben. Die Transformationsprozesse, die uns im Schweigen zuteil werden, können wir nicht selber machen. Sie geschehen in uns. Was wir beitragen können, ist, uns zu öffnen und schlicht da zu sein. Die Erfahrung der Einheit mit dem Urgrund allen Lebens ist immer Gnade. Vor der Kontemplation beten wir mit Bruder Klaus: «Du mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu Dir» (Bitte um Reinigung, «Abschälen», nach Eckehart). – «Du mein Gott, gib alles mir, was mich führet zu Dir» (Tiefenerfahrung, kann ich mir nur schenken lassen). – «Du mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen Dir»(Befreie mich aus der egozentrischen Fixierung hinein in Deine Wirklichkeit).

Gott im Menschen
Es gibt verschiedene christliche Kontemplationswege. Ich persönlich bin verbunden mit der Kontemplation via integralis. Diese Kontemplationsform verbindet den Erfahrungsweg der christlichen Mystik mit der Praxis des Zazen und wurde von Pia Gyger und Niklaus Brantschen gegründet. Sie ist Frucht eines jahrzehntelangen interreligiösen Weges. Als christliche Ordensleute liessen sie sich nach dem Vorbild des Jesuitenpaters Lassalle auf eine intensive Zen-Schulung in Japan ein. Sie und viele ihrer Schülerinnen und Schüler machen die Erfahrung, dass sich durch diesen Weg das Menschsein vertieft und sich ihnen die Schätze des Christentums neu erschliessen. So kann das schweigende Dasein im kontemplativen Gebet in die Erfahrung führen, die Meister Eckehart so ausdrückt: «Gott kommt nicht erst in den Menschen hinein, Gott ist wesenhaft darin.»

Margrit Wenk-Schlegel, Kontemplationslehrerin